Sitzung des ExekutivKomitees der IGhB
Luxemburg, 20. März 2009
GESELLSCHAFT und HEILPÄDAGOGIK HEUTE
Statement von
Jean Paul Muller (BHP e.V.)
Wörter übertragen Bedeutungen – manchmal auch „Stimmungen“. Das Wort „Gemeinschaft“ zum Beispiel weckt positive Gefühle. Was immer man unter „Gemeinschaft“ verstehen mag: Es ist zweifellos gut, „zu einer Gemeinschaft zu gehören“, „in einer Gemeinschaft zu leben“. Kommt hingegen einer vom rechten Weg ab, machen wir seinen „schlechten Umgang“ dafür verantwortlich. Ist einer arm und fristet sein Leben unter entwürdigenden Umständen, klagen wir unverzüglich die Gesellschaft bezw. ihre Organisation und Funktionsweise an. Umgang und Gesellschaft können demnach etwas Schlechtes sein, Gemeinschaft aber nicht. Gemeinschaft ist, so glauben wir, immer gut. Wer wollte nicht unter freundlichen und wohlwollenden Menschen leben, denen er vertrauen und auf deren Worte und Tat er sich verlassen kann? Gerade für uns – die wir nun einmal in unbarmherzigen Zeiten leben, Zeiten des Wettbewerbs, in denen man dem anderen stets um eine Nasenlänge voraus sein muss, in denen sich keiner in die Karten schauen läßt und niemand einem zur Seite springt, in denen Hilferufe mit der Mahnung beantwortet werden, sich gefälligst selbst zu helfen, und in denen einem nur die Banken Kredit geben, und selbst sie nur in ihren Werbespots, nicht in ihren Filialen - klingt das Wort „Gemeinschaft“ süß. Es erinnert uns an all das, was wir vermissen, an die Sicherheit, die Zuversicht und das Vertrauen, an das wir entbehren[1]. Die Menschen die sich heute an uns Heilpädagogen/innen wenden sind jene, die diese drei Komponenten ihres Lebens suchen, zum Teil vermissen oder sie nicht mehr kennen, so dass sie zu einer echten Sehnsucht werden: die Sicherheit, die Zuversicht und das Vertrauen. Und sie erhoffen sich von den Heilpädagogen/innen konkrete Hilfen beim Aufbau ihrer Beziehungen, beim Erlernen von Lebenstechniken, beim Bewältigen der Alltagsherausforderungen.
Die Heilpädagogik ist eine ressourcenorientierte Erziehung, um Menschen jeden Alters, deren körperliche, geistige und soziale Entwicklung in ihrer Entfaltung behindert ist, eine optimale ganzheitliche Entwicklung ihres Selbst zu garantieren und ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Die Theorie der Heilpädagogik hat in den letzten 60 Jahren verschiedene Konzepte über die Betreuung, Förderung, Stärkung und Begleitung von Menschen mit Behinderungen entwickelt, die sich je nach Schule, Weltanschauung und Menschenbild mehr oder weniger an einem tragfähigen Begriff von Normalität orientierten, den es zu erreichen gilt. Schlüsselbegriffe der Konzepte sind Ressourcenorientierung, Assistenz, Integration und Inklusion, die als Theorien die Ausformung der praktischen Tätigkeiten von Heilpädagogen/innen prägten und weiterhin prägen.
In Anlehnung an einen
jüngst erschienenen Bestsellerroman[2]
will ich einen fiktiven Dialog wiedergeben: >>Lernen,
unerbittlich, unermüdlich, unersättlich, mußte man, wenn man eines Tages zu den
Großen gehören wollte – auch das hatte Christian gelernt. .. „Arzt“, sagte R,
„ist der schönste und beste Beruf, den es gibt. Es ist eine klar umrissene hilfreiche
Tätigkeit, deren Ergebnisse unmittelbar sichtbar sind. Ein Patient kommt mit
Beschwerden, der Arzt untersucht ihn, stellt seine Diagnose, beginnt die
Therapie. Der Patient geht geheilt nach Hause, befreit von Schmerzen, fähig
seiner Arbeit nachzugehen.“ „Wenn er
nicht gestorben ist“, entgegnete Ulrich. Ist euch aufgefallen, dass
Krankenhäuser oft neben Friedhöfen stehen? Und zwar neben solchen mit
fortwährenden buddelnden Totengräbern.- Die Wirtschaft, Junge, bietet die
besten Berufe. Schau, du schaffst reale Werte. Du produzierst, sagen wir
Toilettendeckel. Ihr braucht nicht zu grinsen, es wird Zeit, dass jemand eine
Verteidigung des Toilettendeckels unternimmt. Dieses missachtete Oval braucht
jeder, auch wenn niemand darüber redet. Übrigens wusstet ihr, dass es auf Französisch
couvercle heißt? Du wirst nicht groß im Rampenlicht stehen, wenn du Kuverkel
herstellst, das nicht: aber wehe, sie sind nicht lieferbar. Die Wirtschaft ist
das wahre Leben! Und du wirst ´ne Menge damit verdienen.“ „Du und deine blöden Witze“, tadelte
Barbara….. „Als Heilpädagoge bist du Generalist. Du musst alles können. Du musst
sogar etwas von Wirtschaft verstehen. Und viele Heilpädagogen, die ich kenne,
sind musisch veranlagt. Kunst, Handwerk, Bildung: alles trifft sich im
Heilpädagogen. Du kannst in die Forschung gehen, wie es Hans getan hat.
Heilpädagogen werden immer gebraucht. Du kannst sogar, wenn du Heilpädagogik
weiterstudierst ein gutbezahlter Professor werden, bestens aufgehoben in der
pädagogischen oder philosophischen Fakultät, weg von den Ideologen…“<<
Die hier geschilderte Szene enthält einige tatsächlich richtige Aussagen. Man könnte auch sagen: dort wo die Heilpädagogik nicht ist, wird sie vermisst. In unseren Kindergärten, Schulen und Ausbildungsbetrieben, in unseren Krankenhäusern mit den tödlich erkrankten Patienten, in den Altenheimen, den diversen Pflegezentren, aber auch in den Gefängnissen, den Immigrationszentren, den Jugendgerichten, usw.. überall kann man die Heilpädagogen bei ihrer Arbeit antreffen, wenn sie sich selbst als personales Angebot in einer Beziehung von Mensch zu Mensch verstehen und dabei die bewährten Grundlagen (nach Paul Moor) anwenden, wie zb.:
- Erst verstehen, dann erziehen
- Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende
- Nicht nur der Einzelne, sondern auch seine Umgebung.
Als eigenständige Wissenschaft kann die heutige Heilpädagogik sich auf einem soliden Fundament von Erfahrung, interdisziplinärer Forschung, Wertereflektion und visionärem Menschenbild weiterentwickeln, nachdem sie anderen heutigen Professionen im Sozialwesen Pate gestanden hat.
Heilpädagogik ist mehr als nur Pädagogik, da sie sich stets im Spannungsfeld von Freiheit und Grenzen bewegt, weil sie die Selbstbestimmung des Einzelnen achten will und zugleich die Anforderungen von Familie, Schule, Gesellschaft usw. mitvertreten muss. Die Heilpädagogik ist in ihrem Handeln und ihrer stetigen Reflektion immer bemüht die Entwicklungsförderung so auszurichten, dass der Mensch diese selber verinnerlichen kann. Deswegen muss der/die einzelne Heilpädagoge/in sich aufgrund seiner theoretisch-wissenschaftlich fundierten Ausbildung als ein Pädagoge/in für die Zukunft verstehen, der/die selbst am Sterbebett von einem Leukämiekranken Kind es noch schafft, das Lebenswichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.
Heilpädagogik braucht die große Vision und die kleinen
Schritte. Heilpädagogik ist nie nur Fortsetzung, Heilpädagogik ist immer
Aufbruch, Anfang und somit Zuwendung die mehr wagt, als sie kalkulieren kann,
mehr versucht, als sie wissen kann, weiter mitgeht als sie voraus sehen kann.
Wenn ich heute unser kleines Luxemburg hier betrachte, aber auch die anderen - meistens ja wesentlich größeren Städte, die ich in den letzten Wochen besucht habe, wie zb. Buenos Aires, Bahia Blanca, Kigali, Kampala, Chicago und nicht zu vergessen meinen Wohnsitz Bonn, so könnte ich von überall dort ein Foto mitbringen auf dem das erscheint, was die Intellektuellen unter uns mit Multikulturalismus bezeichnen. Es ist das Durcheinander, das uns umgibt, aus dem wir uns nicht richtig heraushelfen können. Es gibt keine Einigkeit mehr über die zu pflegenden Werte, über die Bedeutung des Begriffes „Humanität“, über die richtigen Formen des Zusammenlebens, usw.: es ist allein an jedem Einzelnen von uns, etwas aus diesem Durcheinander herauszusuchen und die Konsequenzen zu tragen, falls sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind. In einer solchen Situation ist es eine Notwendigkeit, dass es Menschen gibt, die anderen Sicherheit, Vertrauen und Halt vermitteln, weil dieser Orientierungsrahmen in zunehmendem Maß fehlt. Ulrich Beck hat einmal ziemlich hart formuliert, dass wir „zur biografischen Auflösung von Systemwidersprüchen“ gezwungen sind, als Heilpädagogen formulieren wir dies einfacher und verständlicher: Wir brauchen individuelle und gemeinschaftliche Lösungen um das Leben auch in dieser immer komplexeren Welt lebenswert zu gestalten. Dabei müssen wir Heilpädagogen aufpassen, dass wir uns nicht einem Trugbild opfern und an überholten Vorstellungen des Lebens festhalten: wenn man in einem stehenden Zug sitzt und der Zug im Gleis nebenan losfahren sieht, glaubt man zuweilen, der eigene Zug habe sich eben in Bewegung gesetzt. Auch wir befinden uns im Getümmel einer sehr dynamischen, globalisierten Welt, wo wir Orientierung und Halt benötigen um uns immer wieder neu auf den Menschen auszurichten, der unsere Hilfe und unsere Assistenz braucht. Nebst unserer individuellen Orientierung sind es zunehmend die nationalen und internationalen Berufsverbände, die sich darum bemühen, die Heilpädagogik auf dem Markt der Möglichkeiten zu verankern indem sie der heilpädagogischen Theorie und Praxis wie Leitplanken, bezw. Leuchttürme den Weg nach vorne weisen und sie vor dem Abgleiten, bezw versinken zu bewahren.
Heilpädagogik ist heute eine wissenschaftlich fundierte Profession, die auf gegenseitiger pädagogisch gestalteter Fürsorge beruht, die Verantwortung übernimmt und sich aktiv dafür einsetzt, dass alle nicht nur die gleichen Rechte haben, sondern auch zunehmend in die Lage versetzt werden, diese Rechte in Taten, in Lebensqualität und ein sinnstiftendes Miteinander umzusetzen.